Kaum ein Thema hat die Medien in den letzten Wochen so stark bewegt wie die Neuigkeiten rund um Mikromobilität und die e-Scooter. Diese Entwicklung lässt sich auch wunderbar auf Google Trends verfolgen. Nach dem großen Jubel mit der Straßenzulassung für e-Scooter im Juni sind die negativen Stimmen in den letzten Wochen deutlich lauter geworden. Bereits in unserem letzten Beitrag zum Urban Mobility Day in Berlin (Bericht) haben wir zur Geduld aufgerufen, weil sich alle Verkehrsteilnehmer erstmal auf die neuartige und umweltfreundliche Mobilität in Form der e-Scooter einstellen müssen. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass es bereits zu Beginn zu Unfällen mit Fußgängern gekommen ist. Natürlich ist jeder Unfall einer zu viel, deswegen ist es als Hersteller auch unser größtes Anliegen ein möglichst hochwertiges und langlebiges e-Fahrzeug auf die Straße zu bringen. Im Internet kursieren derzeit viele Informationen hinsichtlich Reichweite, Batteriekapazität, Bremsleistung und Steigfähigkeit der jeweiligen e-Scooter. Doch sind diese Werte im Alltag überhaupt realistisch? Wir möchten mit diesem Beitrag Licht ins Dunkel bringen und das Thema aus technischer Sicht beleuchten.
Mythos #1: Steigfähigkeiten von über 20 Grad realistisch?
Was ist denn eigentlich überhaupt die Steigfähigkeit? Die Steigfähigkeit ist die Fähigkeit eines Fahrzeuges eine bestimmte Steigung zu überwinden. Die Steigung wird dabei in % angegeben. Eine Steigung um 45° wird in den Lehrbüchern mit 100 % übersetzt und dient als Berechnungsgrundlage für PKW Getriebe.[1] Straßen mit solchen Steigungen gibt es in der Realität schlicht und einfach nicht. Nachfolgend ein Vergleich, um ein besseres Gefühl für die Steigung zu bekommen: Wer schon mal im Stuttgarter Kessel unterwegs war, weiß wie anspruchsvoll die Straßen für diverse e-Fahrzeuge tatsächlich sind. Die Weinsteige ist eine der steilsten Straßen in Stuttgart und weißt eine maximale Steigung von bis zu 17 % auf, umgerechnet sind das 9,65°. Die steilste Straße der Welt befindet sich im Küstenort Harlech in Wales mit einer Steigung von 37,45 % (20°).[2] Entscheidend für die Bewältigung von Steigungen ist bei e-Scootern die Peak-Leistung und das maximale Drehmoment. Im Vergleich zum Pedelec wird bei einem elektrischen Scooter nicht mit der Muskelkraft unterstützt, sondern die Person wird rein elektrisch voran bewegt. Hinsichtlich der Antriebstechnologie muss bei e-Scootern in erster Linie zwischen einem Direktläufer und einem Getriebemotor unterschieden werden.[3] Ein Direktläufer überträgt die Motorumdrehungen direkt auf die Straße und dreht je nach Leistungsklasse schneller, aber hat dafür auch weniger Drehmoment. Hingegen besitzt ein Getriebemotor zusätzlich ein Planetenradgetriebe, welches die Motordrehzahl untersetzt. Dadurch wird die Endgeschwindigkeit zwar reduziert, jedoch das Drehmoment am Rad erheblich erhöht. Besonders am Berg macht sich dies deutlich bemerkbar. Ein 250 W Direktläufer hat eine höhere Endgeschwindigkeit, aber weniger Drehmoment und somit weniger Steigfähigkeit im Vergleich zu einem 250 W Getriebemotor. Da die Fahrzeuge in Deutschland nur 20 km/h schnell fahren dürfen, ergibt es Sinn die Endgeschwindigkeit von beispielsweise möglichen 35 km/h durch ein Getriebe zu reduzieren, um auch die Berge ohne Mühe zu bewältigen und nicht schieben zu müssen. Besonders dann, wenn das Gewicht der Person mehr als die oft angenommenen 80 kg beträgt.
Mythos #2: Warum 500-Watt nicht gleich 500-Watt sind?
Viele Hersteller verbauen lediglich e-Scooter Motoren mit einer Dauerleistung von 250 W, werben dann allerdings mit einer Peakleistung von 500 W. Erlaubt sind in Deutschland jedoch e-Scooter mit einer Dauerleistung von bis zu 500 W, was je nach Konfiguration im alltäglichen Gebrauch eine Peakleistung von bis zu 800 W bedeutet.[4] Da e-Scooter wie bereits erwähnt nicht durch Muskelkraft, sondern rein elektrisch betrieben werden, ist einer Dauerleistung von 400 W – 500 W sinnvoll. Außer es ist nicht angedacht mit dem e-Scooter Berge zu bewältigen und die Person wiegt nicht mehr als 80 kg. An der Stelle muss jeder für seinen ganz persönlichen Anwendungsfall entscheiden, wie leistungsstark der Motor denn überhaupt sein muss? Sollen hauptsächlich ebene Strecken zurückgelegt werden, dann ist auch ein 250-Watt-Motor ausreichend. Allerdings kommt dieser bei Steigungen, besonders bei einem Direktläufer, relativ schnell an seine Grenzen. Wenn am Berg nicht geschoben werden soll, ist es sehr zu empfehlen sich bereits vor einem Kauf näher mit den technischen Daten des Fahrzeugs zu befassen. Wobei hier auch Vorsicht geboten ist, da die Daten oft nicht mit den Erwartungen im Alltag übereinstimmen. Näheres erfahrt ihr weiter unten bei unserem Mythos #4 bezüglich der angegebenen Reichweiten.
Mythos #3: Rekuperation bei einem e-Scooter sinnvoll?
Aus technischer Sicht kann Rekuperation bei einem e-Scooter auch als reines „Marketing-Argument“ gesehen werden. Während sich bei einem Elektroauto beispielsweise wertvolle Kilometer auf längeren Fahrstrecken gewinnen lassen, wird bei einem e-Scooter aufgrund der vergleichsweise geringen Antriebsleistung nur wenig Energie zurück in den Akku eingespeist. Die Frage, die sich hierbei vor allem stellt: Welchen Mehrwert bringen die zusätzlichen 1–2 Kilometer bei angegebenen Reichweiten von bis zu 35 Kilometer im Alltag wirklich? Was ist beispielsweise, wenn der e-Scooter Akku dann trotz Rekuperation tatsächlich mal leer gehen sollte? Ist es nicht deutlich entscheidender, dass sich der e-Scooter zur Not auch ohne Akkubetrieb schön leicht treten lässt? Ob sich der Motor frei dreht, ist dabei nicht vom Getriebe, sondern vom Freilaufrad abhängig. Bei einem Freilauf entsteht beim Fahren ohne elektrischen Antrieb kein Bremseffekt. Dadurch lässt sich der e-Scooter so leicht wie ein Cityroller von früher ohne Motor treten. Bei einem Scooter ohne Freilauf wird zusätzlich gegen das Schleppmoment des Motors angekämpft, wodurch beim Treten ohne elektrischen Antrieb ein Bremseffekt zu spüren ist. Dies kann vor allem auf längeren Strecken ziemlich unangenehm und anstrengend werden. Zudem sollte darauf geachtet werden, dass der Abstand des Trittbretts zum Boden nicht zu groß ist, da sonst die Oberschenkelmuskulatur aufgrund der Kniebeugung sehr schnell zu schmerzen beginnt.
Mythos #4: Angegebenen Reichweiten mehr Wunschdenken als Realität?
Die Frage nach der maximalen e-Scooter Reichweite wird auch uns von YORKS sehr häufig gestellt. Einige Verbraucher sind möglicherweise Reichweiten von Pedelecs gewohnt, wobei der Motor wie bereits weiter oben erwähnt nur unterstützend zur Muskelkraft wirkt. Da ein e-Scooter vor allem dafür gedacht ist möglich schnell und komfortabel von A nach B zu kommen, sind Reichweiten von 25 bis maximal 35 Kilometer im Alltag ausreichend und realistisch. Doch von was ist die Reichweite denn überhaupt abhängig? Technisch gesehen primär von der Akkukapazität und der Dauerleistung des Motors. Darüber hinaus spielt natürlich das Gewicht des Fahrers, aber besonders auch das zurückgelegte Streckenprofil eine bedeutende Rolle. Pauschal kann die Frage also nicht beantwortet werden. Bei unserem s1-elite sprechen wir bei einem Wert von 25 Kilometern von einer Mindestreichweite. Unser eigens in Deutschland entwickelte Akku orientiert sich an der Akkukapazität von qualitativ hochwertigen Pedelecs und liegt mit 475 Wh im vorderen Bereich der derzeit verfügbaren e-Scooter auf dem Markt. Da die Reichweiten in den wenigstens Fällen weder getestet noch geprüft werden, sind die angegebenen Werte mit großer Vorsicht zu genießen. Warum ein Akku mit viel Kapazität dennoch Sinn ergibt? Es ist das sicherheitskritischste und gleichzeitig auch einer der teuersten Bauteile bei jedem e-Scooter. Je öfter der elektrische Tretroller im Alltag benutzt wird, desto häufiger muss er dann selbstverständlich auch an die Steckdose. Eigentlich selbsterklärend, allerdings verringert jeder Ladezyklus die Lebensdauer der Lithium-Ionen-Zellen. Je größer die Akkukapazität, desto größer in den meisten Fällen auch die Reichweite und desto weniger muss im Alltag tatsächlich auch geladen werden, wodurch sich die Lebensdauer verlängert. Diese beträgt, unter anderem auch je nach Qualität der verbauten Zellen, zwischen 500 und 800 Ladezyklen.[5] Leider verfügen die wenigsten der günstigen Fabrikate über ein eingebautes intelligentes Batteriemanagementsystem auch BMS genannt. Das BMS schützt jede Zelle vor Unterspannung, aber auch vor einer Überspannung durch Abschaltung des Ladevorgangs. Im Falle einer Überhitzung wird das System einfach abgeschaltet, um Schäden oder sogar eine Explosion zu verhindern.[6] Zudem lässt sich durch das BMS jede Zelle einzeln ausgelesen und auf deren Gesundheitszustand überprüfen. Außerdem sorgt das BMS dafür, dass der e-Scooter auch über den Winter nicht permanent an der Steckdose hängen muss, ohne dass der Akku im Frühjahr viel von seiner ursprünglichen Kapazität verloren hat. Dieser Effekt wird auch als „Tiefentladung“ bezeichnet und beschädigt die Zellen irreversibel.[7] Dies tritt in erster Linie dann auf, wenn die Akkuzellen des e-Scooters lange nicht mehr geladen wurden und damit unter die festgesetzte Spannung fallen. Das BMS schaltet sich bei langer Nichtnutzung in einen Schlafmodus, wodurch kein Eigenstrom gezogen wird und weckt sich nach dem Einschaltvorgang selber wieder auf.
Mythos #5: Elektrische Bremskraft besser als mechanische?
Die Mindestanforderungen an das Bremssystem wird in der Elektrokleinstfahrzeug-Verordnung (eKFV) lediglich über den Bremsverzögerungswert von 3,5 m/s² bestimmt.[8] Dies entspricht einem Mindestbremsweg von 4,5 m, wenn der Bremsvorgang bei einer Geschwindigkeit von 20 km/h eingeleitet wird. Hierbei wird der einmalige Bremsvorgang auf einer Ebene gemessen. Der Wert sagt jedoch nichts über Bremsdauerleistung aus, welche bei einem e-Fahrzeug durchaus von Bedeutung sein kann. Wird beispielsweise auf einem zwei Kilometer langen Gefälle gefahren, dann kann der e-Scooter durchaus Geschwindigkeiten von über 30 km/h erreichen. Hierbei ist es dann entscheidend, ob die Bremsen dafür ausgelegt sind ein Fahrzeug über einen längeren Zeitraum hinweg trotz hoher Hitzeentwicklung entsprechend zu verzögern. Dies wird aktuell nur durch ausgereifte Scheibenbremsen erreicht. Elektrische Bremsen ergeben wirklich nur dann Sinn, wenn der Motor mindestens 500W Dauerleistung hat, welche dann auch als Bremsleistung genutzt werden kann. Diese sollten gemäß unseren Erfahrungen jedoch nicht als Hauptbremssystem, sondern als zusätzliches Komfortsystem eingesetzt werden. Sollte der Motor nämlich tatsächlich mal ausfallen, dann ist davon auch das elektrische Bremssystem betroffen und damit nicht mehr funktionsfähig. Ein Kritikpunkt von guten Scheibenbremsen ist das stark gewöhnungsbedürftige Ansprechverhalten. Dies wird oft als sehr abrupt wahrgenommen und ist vor allem der besonderen Fahrzeuggeometrie beispielsweise im Vergleich zum Fahrrad geschuldet, aber auch der Tatsache das auf dem Fahrzeug gestanden wird. An der Stelle ein kleiner Tipp von uns: wer mit einem e-Scooter schnell und sicher zum Stehen kommen möchte, sollte beim Bremsvorgang sein Gewicht nach hinten verlagern, die Arme anspannen und dabei leicht in die Kniee gehen. Nach zwei bis dreimaligen üben bei einer Gefahrenbremsung wird das Risiko einer Vorwärtsrolle deutlich reduziert und es wird ein Gefühl für die sensiblen Scheibenbremsen entwickelt. Wer also einen e-Scooter im Alltag nutzen möchte, sollte sich beim Kauf darüber absolut im Klaren sein, dass es sich hierbei um ein „kleines“ Kraftfahrzeug handelt. Dieses ist weit höheren Belastungen und Anforderungen ausgesetzt, als beispielsweise ein herkömmlicher Tretroller und sollte deshalb auch mit einem bewährten Sicherheitssystem ausgestattet sein, damit reaktionsschnelle Bremsvorgänge bei einer Gefahrensituation überhaupt möglich sind. Das bloße erfüllen der technischen Richtlinien aus der Elektrokleinstfahrzeug-Verordnung ist noch lange kein Garant dafür, dass das verbaute Bremssystem allen alltäglichen Situationen im Straßenverkehr umfänglich gewachsen ist.
(YORKS GmbH, 30.08.2019)
[1] https://www.gesetze-im-internet.de/ekfv/BJNR075610019.html
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Steigung
[2] https://www.focus.de/panorama/welt/rekorde-wales-hat-die-steilste-strasse-der-welt_id_10935256.html
[3] https://www.ebike-solutions.com/de/elektrofahrrad-technik.html
[4] https://www.gesetze-im-internet.de/ekfv/BJNR075610019.html
[5] https://www.elektronik-kompendium.de/sites/bau/0810281.htm
[6] https://www.akkuman.de/akku-academy/bms-batterie-management-system/00522
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Tiefentladung
[8] https://www.gesetze-im-internet.de/ekfv/BJNR075610019.html